Ich erinnere mich nicht mehr so genau, was Susanne mir gesagt hat, als sie mich auf der re:publica ansprach. Aber ich erinnere mich an ihre Ausstrahlung: Warm, freundlich, energiegeladen – und überzeugend. Und natürlich hab ich mich geschmeichelt gefühlt, als sie mich kurzerhand einlud, beim Literatur-Camp einen Vortrag über mein Blog- und Podcast-Projekt “Die Anachronistin” zu halten. Ich hab vage zugesagt, hatte allerdings keinen blassen Schimmer, was mich bei so einem #LitCamp eigentlich erwartet.
Susanne wird das geahnt haben, deshalb hat sie mich zu gegebener Zeit noch mal an die Veranstaltung erinnert – zwischen Anfang Mai und Ende Juni lagen halt gerade mal sieben Wochen. Mein Terminkalender war echt voll, aber ich halte auch gerne Versprechen. Und deshalb hab ich mir den Samstag freigeschaufelt, um “mal eben” nach Heidelberg zu fahren. Und obwohl ich meine Bahnfahrt aus Köln mit reichlich Puffer geplant hatte, war ich prompt zu spät. Ich saß in Köln fest – in der Bahn, die eigentlich hätte pünktlich losfahren können und einfach nicht losfuhr. Ich hasse zu spät kommen.
Am Ende war ich nicht die einzige, die es nicht pünktlich geschafft hatte – und so twitterten wir uns in die Veranstaltung. Gerade noch rechtzeitig zur Vorstellungsrunde. Ich habe kurz gebraucht, um mich zu orientieren. Denn wie das bei Barcamps so üblich ist, organisiert sich die Veranstaltung beim Event sozusagen selbst. Alle Teilnehmer, die etwas vortragen wollen, dürfen einen Vorschlag zu einem Talk einreichen – und dann wird geschaut, wie viel Interessenten es gibt und welche Räumlichkeit dafür zur Verfügung gestellt wird. Also hab ich brav meinen Zettel ausgefüllt und mich in die Schlange gestellt, um den Teilnehmern mein Thema zu präsentieren. Wie aufregend! Was, wenn keiner aufzeigt und niemanden mein Thema interessiert?
Ist natürlich nicht passiert. Aber diese Momente der Unsicherheit gibt es ja immer – irgendwo muss der Nervenkitzel ja herkommen. Und zack, stand mein Vortrag an der Orga-Tafel. Direkt der zweite Vortrag der Veranstaltung. Na dann. Auf ins Vergnügen. Und während ich so im Foyer die letzten Klicks machte, um mein anderes Podcast-Projekt – den Was denkst du denn Podcast – via LitCamp WLAN in die Welt zu schicken, gabs dann die erste Überraschung für mich. Nein, mein Vortrag wird nicht im kleinen, gemütlichen Stuhlkreis hinter dem Empfangsbereich stattfinden. Mein Vortrag ist für die Hauptbühne geplant – mit Livestream versteht sich.
Oh. Mehr fiel mir dazu in dem Moment nicht ein. Denn Susanne hatte mir gesagt, ich bräuchte da gar nichts vorbereiten. Das sei alles ganz easy und spontan. Gar kein Problem. Und also hatte ich auch nichts vorbereitet. Ich glaube ja im Nachhinein, das war ein sehr ausgebuffter Trick, damit ich nicht absage, weil mir die Vorbereitungszeit fehlt. Aber ich liebe Abenteuer und spontan ist mein zweiter Vorname. Also habe ich schnell ein paar Sachen aus alten Präsentationen neu zusammengestellt und voilá – schon stand ich auf der Bühne. Im Prinzip weiß ich ja auch, was ich erzählen will.
Es geht um die Geschichte meines Großvaters Theo Hespers. Der war Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg und hat aus dem niederländischen Exil heraus aus Journalist gearbeitet. Zusammen mit vielen, vielen anderen Widerstandskämpfern. Je nach dem, für wen mein Großvater ein Vorbild sein soll, wird seine Geschichte sehr unterschiedlich interpretiert. Und auch die seiner Mitstreiter erscheint häufig in sehr unterschiedlichem Licht. Mir ist bei meinen Recherchen aufgefallen, dass einige Dinge in der Geschichtsschreibung ausgeklammert wurden. Zum Beispiel, dass sein Mitstreiter Hans Ebeling homosexuell war – was für die Geschichte und die Motivation der handelnden Personen durchaus wichtig ist. Oder dass die Geschichte der niederländischen Friedensaktivistin Selma Meyer, die meinen Großvater und Hans Ebeling nicht nur finanziell unterstützt hat, oft nur so nebenbei läuft mit dem Hinweis, sie habe das alles nur aus Liebe zu Hans Ebeling gemacht. Eine Deutung, an der ich beim LitCamp17 in Heidelberg erstmalig öffentlich meine Zweifel äußere – und begründe. Was vor allem daran liegt, dass dieser Vortrag überhaupt erst mein dritter öffentlicher Auftritt in diesem Zusammenhang ist.
Am Ende lief die Präsentation auch ohne große Vorbereitung überraschend gut. Das Publikum war sehr interessiert, super neugierig und diskussionsfreudig. Und weil ich nun schon mal da war, habe ich mich einfach ganz spontan noch an zwei weiteren Workshops beteiligt. Zusammen mit Kati Frenzel habe ich über das Schreiben fürs Hören referiert – und für den Abend spontan einen kleinen Poetry-Slam-Text geschrieben. Und irgendwie ging der Tag viel zu schnell vorbei. Am Ende wäre ich sehr gerne noch einen Tag länger geblieben. In nur wenigen Stunden sind mir so viele Menschen ans Herz gewachsen – und ich hätte gerne auch noch so viel von den anderen auf dem LitCamp gehört und gesehen, aber so ist das nunmal mit der Zeit.
Kurz nach dem LitCamp war dann mein Vortrag auch auf Youtube zu sehen. Also habe ich meine unfassbaren 30 Newsletter-Abonnenten darüber informiert, dass ich mich als Anachronistin mal wieder auf einer Veranstaltung präsentiert habe. Auf der einen Seite finde ich dieses Selbstmarketing immer wieder etwas – nunja – anmaßend. Auf der anderen Seite möchte ich aber natürlich Menschen für mein Thema begeistern. Und so ein Talk ist dafür einfach eine gute Gelegenheit. Also schicke ich diesen Newsletter raus.
Etwas mehr als zwei Wochen später dann erhalte ich eine Mail. Sie kommt von der Historikerin Myriam Everard. Sie hat meinen Vortrag auf Youtube gesehen, schreibt sie:
“Vor allem die Stelle, in der du deine Zweifel daran äußerst, dass Selma Meyer der Widerstandsgruppe deines Großvaters und Hans Ebeling aus Liebe zu Ebeling beigetreten ist, hat meine Aufmerksamkeit erregt. Es ist unzweifelhaft, dass sie das in ihrem Verhör so gesagt hat. Aber natürlich kann man nicht sicher sein, dass jemand unter solchen Umständen einfach die Wahrheit sagt. Vor allem in ihrem Fall – sie hat lange Jahre mit einer Frau zusammengelebt, er war homosexuell und sie hat ihn sicherlich auch als solchen erkannt… etc.”
Es ist ein warmer Sommerabend Mitte Juli und ich sitze auf einem kleinen, sehr belebten Platz in Köln, als ich diese Zeilen lese. Ich bin einigermaßen überrascht und ein bisschen euphorisch – und deshalb reiße ich meine Faust hoch und schreie laut: “Yes!” – was einige der anderen Sommersonnenplatzgenießer kurz ein bisschen irritiert. Aber wie verrückt ist das bitte? Da spreche ich nichtsahnend vor einem doch recht exklusiven Publikum in Heidelberg – und dann sorgt das davon existierende Youtube-Video dafür, dass meine Theorie Selma Meyer betreffend eine wissenschaftliche Basis erhält, weil eine Historikerin in den Niederlanden durch meinen kleinen Newsletter von dem Vortrag erfährt. Danke, Internet an dieser Stelle.
Und es kommt noch besser: Zwei Wochen später habe ich mich mit dieser Historikerin in den Niederlanden getroffen. Zusammen mit einer weiteren Nachfahrin des Widerstandskreises meines Großvaters. Gemeinsam wollen wir dafür sorgen, dass Selma Meyer und ihre Geschichte in den Niederlanden bekannter wird. Weil sie es verdient hat. Und weil sie nicht – wie behauptet – aus Liebe gehandelt hat, sondern weil sie eine politisch engagierte Frau war und zwar weit bevor sie Hans Ebeling und meinen Großvater kannte. Und, das geht direkt an dich, liebe Susanne: Ohne dein Engagement und deine tolle Veranstaltung, wäre es nie so weit gekommen. Danke für deinen Flügelschlag – der sich gerade im Universum fortsetzt.
Nora Hespers, 03.09.2017
Website: Nora Hespers
Die Anachronistin (Podcast)
Was denkst du denn? (Podcast)
Die Bilder von Nora Hespers hat Valentin Bachem gemacht: Literaturcamp Heidelberg 2016
Lizenzierung ist @creativecommons CC-BY 2.0 Bedingungen.
HDValentin meint
Beeindruckend was Menschen bewirken und bewegen, wenn sie sich auf Barcamps verbinden.
Vielen Dank dass Du Teil des Litcamp warst und Deine Erlebnisse aufgeschrieben hast.